Konzeptueller Rahmen

„Das Ephemere ist eine Gottheit, die so polymorph ist wie ihr Name.“
Louis Aragon

Louis Aragon, einer der Protagonisten des frühen Surrealismus der 1920er-Jahre charakterisiert das Ephemere in seinem 1926 erschienenen Roman Le Paysan de Paris (Der Bauer von Paris) als einen Begriff, ein Phänomen, das vor Trugbildern nur so strotze. Aragon erlebte auf seinen Spaziergängen durch die Pariser Straßen der 1920er-Jahre eine Stadt, die zu dieser Zeit kontinuierlicher Veränderung unterlag und so den idealen Nährboden für eine Faszination für das Vergängliche, das Flüchtige bot. Ephemer. Es sind diese „drei Silben, die wie eine von grünen, koboldhaften Augen bevölkerte Legende klingen“ und sich jeder Illusion von Dauerhaftigkeit entziehen. Die zweite Zeile dieser lautmalerischen Annäherung (siehe obige Abbildung) reduziert den Begriff auf ein Minimum, auch das Schriftbild wird flüchtig. F.M.R. Heute, beinahe 100 Jahre später, werden diese drei Buchstaben zum Titel eines neuen Formats — LINZ FMR.

LINZ FMR ist eine Plattform, vielleicht sogar eine Art Festival, das sich gerne als LINZ EPHEMER ansprechen lässt. Das Phänomen, das von Aragon in plastischen Bildern voller Flüchtigkeiten beschrieben wurde, ist zugleich Fundament, Arbeitsanweisung und Exit-Strategie einer Konfrontation mit Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen. An vier Tagen werden Arbeiten von 18 Künstler_innen im weitläufigen Parkareal der Linzer Donaulände gezeigt und unterschiedliche Zugänge zu Prozessen und Strukturen der Gegenwart erprobt.

Das Adjektiv ephemer hat seine Wurzeln im griechischen ephemēros, was so viel bedeutet wie nur einen Tag lebend, und beschreibt etwas von kurzer Dauer, von Vergänglichkeit und schwindender Bedeutung. LINZ FMR ist ein Format für künstlerische Prozesse und Positionen, die den ephemeren Charakter einer digitalen und vernetzten Gegenwart reflektieren. Die fortschreitende Digitalisierung des Alltags impliziert intensive Überlagerungen und Schichtungen von altbekannten, physischen sowie feinmaschig verflochtenen, virtuellen Räumen. In der Schnelllebigkeit dieser multidimensionalen Strukturen verflüchtigen sich im Kontext von künstlerischer Arbeit langsam auch die letzten Bastionen klarer Medien- und Disziplinenzuschreibungen.

So führten beispielsweise Diskurse rund um neue Ansätze in der Medien- und Internetkunst zur Herausbildung eigenwillig anmutender Micro-Genres wie Post Internet Art, New Aesthetic oder New Digital Art; doch selbst Subkategorien können im Kontext einer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Kunst in digitalen Kontexten nur als vergängliche Momentaufnahmen fungieren. Faktoren wie die omnipräsente Dauervernetzung oder der Umgang mit scheinbar unbegrenztem Zugang zu Information unterstreichen den jeweils ephemeren Charakter künstlerischer Produktionen. Die Ebenen der Bedeutung beugen sich demnach der Geschwindigkeit und Vergänglichkeit, welche die Strukturen ihrer Produktion sowie Rezeption mit sich bringen.

Hartmut Rosa widmet das Vorwort seiner Ende 2018 erschienenen Überlegungen zur Unverfügbarkeit dem meteorologischen Phänomen Schnee. »Der Schneefall ist geradezu die Reinform einer Manifestation des Unverfügbaren: Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg«, heißt es bei Rosa. Schnee ist ephemer. »Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns unter den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fließt er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf, Schnee zu sein.« Diesem Vorgang wird versucht mit komplexen Maschinen, sogenannten Schneekanonen entgegenzuwirken, so Rosa.

Es sind künstliche Eingriffe wie diese, die für LINZ FMR zentral sind. Eine Schneekanone will natürliche Prozesse reproduzieren. Es kommt zu Einschnitten und Brüchen; ökologische Kreisläufe und kulturelle Artefakte beginnen sich immer stärker zu überlagern und gehen temporäre Symbiosen ein, die dem Wunsch einer planbaren Verfügbarkeit zu entsprechen versuchen. Doch auch mit dem raffiniertesten Zugang bleibt Kunstschnee in seiner Grundlage ephemer. Es entstehen technisch gedehnte Flüchtigkeiten, die in direkten Spannungsverhältnissen mit den Fundamenten ökologischer Strukturen stehen, doch zumindest vorerst noch flüchtig bleiben.

Die Auseinandersetzung mit derartigen Abläufen bleibt für LINZ FMR jedoch nicht auf rein theoretisch vergleichender Ebene. Mit der Wahl eines Parkareals am Linzer Donauufer als Ausstellungsort überträgt sich diese Beschäftigung auch in die aktive Konzeption und Produktion. Unzählige Faktoren ökologischer Kreislaufsysteme sind ephemer und repräsentieren zugleich in ihrer Gesamtheit ein Denken in Langfristigkeiten. Dazu kommt mit dem speziellen örtlichen Rahmen der hybride Charakter einer artifiziellen, künstlich in Form gehaltenen Natur hinzu — wie beim Einsatz von Rosas Schneekanonen resultieren durch die Gemachtheit eines Parks Überlagerungen von Natürlichem und Artifiziellem. Dieser vielschichtige Raum bildet Bühne und Display für gegenwärtige und somit digital geprägte Flüchtigkeiten.

LINZ FMR 19 reflektiert eine örtliche Aktualität, ohne dabei die konstanten Überlagerungen mit Vorangegangenem zu negieren. Es sind nicht nur natur- bzw. kulturgeschichtliche, sondern auch explizit kunsthistorische Einschnitte, die den bespielten Ort prägen. Im weitläufigen Areal finden sich zehn Skulpturen, die im Zuge der Ausstellung Forum Metall im Jahr 1977 und in den Folgejahren errichtet wurden und den Park formen und definieren. Im Rahmen von LINZ FMR 19 kann die Aktualisierung eines Skulpturbegriffs folglich auch im Kontext dieses historischen Ensembles nachvollzogen werden. Die auf massive und materielle Dauerhaftigkeit ausgelegten Arbeiten aus den 1970er-Jahren werden behutsam von der Gegenwart umwoben, ohne dabei jedoch direkt auf sie Bezug zu nehmen.

LINZ FMR will der Gegenwart einen Rahmen, eine temporäre Bühne bieten und setzt künstlerische Prozesse in Szene, um ihren ephemeren Charakter zu erproben. LINZ FMR überlagert und schichtet zeitliche sowie materielle Ebenen. LINZ FMR wird wieder verschwinden und dadurch einen bleibenden Abdruck hinterlassen; oder um abschließend noch einmal auf Aragon zurückzukommen:

Ephemer — F.M.R. — folie – mort – rêverie: Wahnsinn – Tod – Träumerei Les faits m’errent: Die Fakten gehen mir durch den Kopf — LES FAIX, MÈRES: DIE LASTEN, MÜTTER — Fernande aime Robert: Fernande liebt Robert — pour la vie: fürs ganze Leben!

O Ephemeres o — Ephemere. F M R